Auszüge aus dem Tagebuch

 
   
Chang Tang

Vorbereitungen in Kashgar

10. September: Unser Hotelzimmer sieht aus wie eine riesige Rumpelkammer. Für Aussenstehende müsste die Mischung aus Einkaufstüten, Packsäcken, Isomatten, Schlafsäcken, Fahrradbauteilen, Kletterausrüstung, Klamotten und Fotoausrüstung wie das Sortiment eines grossen Gemischtwarenladens wirken. Zwischen all der auf den Betten und dem Boden ausgebreiteten Ausrüstung schaut hin und wieder eine Ecke vom Bettlaken oder dem Teppich heraus.
Nach und nach entstehen wieder freie Flächen in unserem Hotelzimmer. Die Fahrräder sind fertig montiert und lehnen an der Eingangstür. Jetzt kann erst mal keiner rein oder raus. Die Anhänger stehen im eh schon winzigen Badezimmer. Die acht grossen Packtaschen, die vielen kleinen Zusatztaschen und die beiden Anhänger werden nun mit der Ausrüstung und Proviant beladen.

Waltraud und ich beginnen die Radtour mit jeweils etwa 40 Kilogramm Zuladung auf unseren etwa 18 Kilogramm schweren Rädern, davon sind etwa 20 Kilogramm in jedem Anhänger. Schwer ins Gewicht fällt dabei die gesamte Bergausrüstung, die ein Tourenradler üblicherweise nicht mitschleppt. Wir sind zwar froh, dass wir neue Eispickel aus ultraleichten Materialien sowie sehr leichte Steigeisen dabei haben, aber in der Summe macht sich das doch bemerkbar: Brust- und Hüftgurte, ein 40 Meter langes Gletscherseil, Karabiner, Eisschrauben, Schneehering, Sicherungsschlingen und natürlich die schweren steigeisentauglichen Bergstiefel. Mit im Gepäck sind auch Gamaschen, warme Fäustlinge, dicke Daunenjacken, Gletscherbrillen und warme Sturmhauben.

11. September: Nach einem stärkenden Essen an einem Strassenimbiss in Yecheng geht es endlich richtig los, wir biegen auf die Staatsstrasse 219 ab, den Xinjiang-Tibet Highway. Das Wort 'Highway' ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Es ist nämlich grösstenteils eine staubige Schotterpiste. Von nun an geht es bergauf: Yecheng liegt auf etwa 1500 Meter Höhe und wir müssen uns nun auf einer Distanz von 720 Kilometern und über sieben Pässe langsam auf das tibetische Hochplateau mit über 5000 Meter Höhe hocharbeiten.

Über sieben Pässe nach Tibet

13. September: Welch ein Kontrast! Gestern hatten wir noch Wüstenhitze von 45°C und heute Morgen haben wir Eis auf der Zeltplane. Mit Fingerhandschuhen fahren wir die ersten Stunden bergauf. Letztendlich sind wir sogar etwas froh darüber, dass wir nicht mehr von der Hitze sondern von der Steigung unsers ersten Passes strapaziert werden. Kurve um Kurve kurbeln wir uns hoch. Jeder Kilometerstein wird begrüsst und die Distanz zur Passhöhe neu errechnet. Glücklicherweise hat die zunehmend dünner werdende Luft noch keinen starken Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit, der Akmeqit Pass liegt ja „nur“ auf 3300 Meter Höhe.

Der Blick reicht weit nach Süden ins Karakorum Gebirge hinein und wir sind beeindruckt von den tief zerfurchten Täler und vegetationsfreien steilen Felshängen. Nirgends ist ein Flecken Grün zu sehen. Die Wüste geht direkt in die Hochgebirgsregion über. Die Kulisse der über 5000 m hohen vergletscherten Gipfel bildet ein weisses Band, das eine klare und kontrastreiche Grenzlinie zum tiefblauen Himmel und der braunen Wüste bildet. Weit und breit ist keine Wolke zu sehen.

Kurze Zeit später im Tal des Tiznap He ist kein Luftzug ist zu spüren. Der von den vorbeifahrenden Lkws aufgewirbelte Staub wird nicht weggeweht und legt sich Lage für Lage auf unsere schweissnassen Hemden. Wir fahren mit einem Baumwolltuch vor Mund und Nase, das hält die Atemwege etwas feucht und verhindert, dass wir eine Staublunge bekommen. Wir trösten uns mit der Tatsache, dass uns die Strasse 219 nur für unsere Anreise und zur Akklimatisation dient, in weniger als zwei Wochen werden wir den Pistenstaub verlassen.

14. September: In 4400 Meter Höhe bauen wir auf einer breiten Schotterbank des Bergbachs unser Nachtlager auf. Es war ein langer Tag, wir sind 1400 Höhenmeter teilweise auf anspruchvoll steilen Serpentinen bergauf gefahren, und nun sind wir ausgepowert und müde. Nachts wird es mit minus 12°C empfindlich kalt und unser schneller Anstieg macht sich bemerkbar, da wir ja noch nicht auf 4000 Meter akklimatisiert sind. Kopfschmerzen sind vorprogrammiert. Morgen geht es den zweiten Pass, den Chiragsaldi-Pass, hoch auf 4930 Meter.

17. September: Nach kurzer, aber kalorienreicher Rast beginnt die rasante Abfahrt vom 4950 Meter hohen Kirgiziangal Pass. Zwar erscheint die Piste umso glatter, je schneller man fährt, dafür schwindet aber auch die Bodenhaftung. Lenk- oder Bremsmanöver können dann schnell gefährlich werden. Über 40 Kilometer pro Stunde traue ich mich daher nicht zu fahren. Wir beschliessen zur besseren Höhenanpassung die Abfahrt heute bereits am frühen Nachmittag auf 4500 Meter Höhe zu beenden, dort zu zelten und nicht wie üblich bis abends weiterzufahren. Schnell finden wir auch einen geeigneten Platz abseits der Piste. Die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel mit einer Intensität, wie wir sie bisher noch nicht erlebt hatten. Am Zelt, das wir morgens noch vereist eingepackt hatten, kann man fast zusehen, wie die Feuchtigkeit an die trockene Luft verschwindet. Es sind über 30°C und der Schatten im Zelt lädt zu einem Nachmittagsschläfchen ein. Waltraud holt währenddessen im nahegelegenen Gebirgsbach Wasser und fotografiert die Aussicht auf die gletscherbedeckte Bergkulisse rund um unseren Zeltplatz. Es ist wahrlich ein perfekter Platz, um sich auf die vor uns liegenden Abenteuer im Hochland von Tibet einzustimmen.

20. September: Wir legen in Dahongliutan einen kleinen Halt ein, um eine unserer Benzinflaschen aufzufüllen. Natürlich lockt uns auch eine grosse Portion frische Nudeln ins Restaurant und wir nutzen die Gelegenheit, in einem der beiden Läden noch etwas Grundnahrungsmittel, also Nudeln, einzukaufen. Diese so einfache Aufgabe wird jedoch ungewollt zu einer teilweise absurden Geschichte:

Im ersten Laden: Ein leicht vertrottelter Chinese kommt hinter dem Vorhang zum Nebenzimmer hervor. Wir möchten Nudeln kaufen. Er zeigt im Regal auf die kleinen Papptöpfchen, in denen fertige Nudelmalzeiten samt Gewürzen und Sosse ist. Nur heisses Wasser draufgiessen, fünf Minuten warten und schon ist dieses Gericht servierfertig. Einziger, aber gravierender Nachteil für uns ist, dass in solch einem Töpfchen nur 90 Gramm Nudeln sind. Wir aber wollen fünf Kilogramm mitnehmen, die Menge, die wir für unsere Versorgung im Chang Tang noch benötigen. Anstatt dass der Verkäufer mal nachdenkt, dass unser Wunsch doch weit mehr ist, als in so einem Töpfchen abgepackt ist, rechnet er mit dem Taschenrechner aus, wie viele Nudeltöpfchen wir benötigen, um fünf Kilogramm zu erhalten. Nachdem wir aber weder vom Volumen noch vom Verpackungsmüll her gewollt sind, 55 Nudeltöpfe mit uns rumzuschleppen, machen wir ihm noch mal klar, welche Art von Nudel wir haben wollen: Die flachen Bandnudeln, die es überall zu essen gibt. Er winkt ab und tut so, als kenne er keine anderen Nudelarten. Zucker, der auch auf unserer Einkaufsliste steht, hat er auch nicht da.

Im zweiten Laden wird es schon interessanter, da wir Zucker direkt in der Auslage der Glasvitrine sehen – allerdings in kleinen Tütchen zu jeweils 245 Gramm abgepackt. Nun, besser als nichts. Wir bestellen zwölf Packungen, da wir etwa drei Kilogramm wollen, und schreiben unseren Wunsch „12“ auf einen Zettel. Die Chinesin hinter dem Tresen streicht diese Zahl durch und schreibt „10“ daneben. Gut, sie versteht unsere Mengenangabe als Frage zum Preis einer Tüte. Wir sagen, dass dies in Ordnung sei, und fordern sie durch Handzeichen auf, mehr Tüten auf den Tisch zu legen. Sie bringt aber nur eine weitere Packung nach oben und schaut uns mit ihrem Pfannkuchengesicht sinnentleert an. Also noch mal die Fingersprache für eine weitere Packung. Ab der fünften Packung scheint ihr die Prozedur allmählich bekannt vorzukommen und sie legt nun schon freiwillig eine Packung nach der andern auf den Tisch, nicht aber ohne nach jeder neuen Packung auch unsere erwartungsvollen Gesichter zu prüfen, ob jetzt genug da liege. Schliesslich haben wir unsere gewünschte Zuckermenge und lassen uns dies in eine dünne Plastiktüte verpacken.
Jetzt kommen die Nudeln dran. Wer hätte es vermutet: Sie zeigt automatisch auf die uns schon bekannten Nudeltöpfchen. Uns dämmert inzwischen, dass es vielleicht ein komplett anderes Wort für die trockenen flachen Bandnudeln geben könne. Dieses Mal gehen wir daher anders vor: Wir zeichnen die Form der Nudel auf einem Zettel, letztendlich eine Form wie bei einer schmalen Holzleiste. Die gute Dame ist völlig verwirrt und sprachlos. Das kann doch nicht sein, denken wir uns. Dem Laden ist auch eine chinesische Garküche und ein kleines Restaurant angeschlossen. An einem der Tische sitzen drei weitere Personen und spielen Mahjong. Als wir uns hilfesuchend mit unserer Zeichnung und dem Wort für "Nudel" an die Runde wenden, sind beiden Frauen ebenfalls ratlos gegenüber unserem Wunsch. Nur der mitspielende junge Soldat lacht sich kaputt und sagt einige Wörter. Da verändert sich plötzlich der Gesichtsausdruck unserer Ladenbedienung und sie winkt uns in die Küche und weiter in die Vorratskammer. Es ist nicht zu fassen, aber da steht neben den Mehl-, Zucker- und Stärkesäcken ein 25 kg-Sack voll mit genau diesen Bandnudeln. Eine Waage gibt es nicht, sodass wir die Menge grob abschätzen. Die Nudeln werden in Zeitungspapier eingewickelt und in einem unserer mitgebrachten wasserdichten Packsäcke verstaut. Wir bezahlen und bedanken uns beim Soldaten, dass er uns mit wenigen Worten weiter geholfen hat.

21. September: Der Khitai-Pass ist der bisher höchste und auch von den Steigungen der steilste Pass den wir befahren. Wir benötigen den gesamten Tag für eine Strecke von nur 45 Kilometern. Der Pass ist zweigeteilt: Die erste Passhöhe liegt bei Kilometer 518 auf 4918 Metern, die zweite bei Kilometer 537 auf 5170 Metern Höhe. Dazwischen liegt eine sehr sandige Ebene, über die der Wind mit Vehemenz aus Westen bläst, für uns damit schräg von vorne.
Nach den obligatorischen 'Passfotos' bereiten wir uns auf die kalte Schussfahrt 200 Höhenmeter hinab in die Ebene des Aksai Chin vor. Die durchschnittliche Höhe der vor uns liegenden Landschaft liegt bei 4900 Meter. An einigen Stellen ragen Bergrücken und kleine Hügel aus der Ebene empor, aber selten höher als 5500 Meter. Dadurch bekommt die gesamte Landschaft sehr weiche und sanfte Züge, nichts erinnert an die schroffen Berggrate, Felsen und Schutthänge des Karakorum- und Kunlun-Gebirges, durch die wir die letzten Tage radelten. Einzelne abflusslose Salzseen und staubige windgepeitschte Lehmflächen dominieren die Ebene, die vor 50 Millionen Jahren einst ein Meeresboden war. Süsswasser ist für etwa 250 Kilometer nur an einer einzigen Quelle beim Kilometerstein 545 zu finden.
Der scharfe Westwind flaut jedoch heute auch nach Sonnenuntergang nicht ab und hindert uns an der raschen Fahrt bis zur Quelle. Die fünf ebenen Kilometer erscheinen qualvoll lang. Der Mond ist schon im Osten aufgegangen, als wir endlich vom kalten Wind durchgefroren beim Kilometerstein 545 stehen.

25. September: Wir zelten knapp unterhalb unseres letzten Passes nach Tibet, der gestern noch mal eine strapaziöse Herausforderung für uns war: 5460 Meter Höhe! Jetzt sind wir in Tibet angekommen! Bis zum vorgesehenen Punkt, an dem wir die Piste 219 verlassen werden, sind es nur noch 32 Kilometer. Das sollten wir bis zum Nachmittag locker schaffen.

Nachts hat es geschneit. Ein märchenhaftes Glitzern liegt rings um uns. An den goldgelben Grashalmen, die aus dem Schnee heraus schauen, schmelzen einzelne Schneekristalle und reflektieren das schräg auftreffende orangefarbene Morgenlicht.

Wir stehen erst mit den Sonnenstrahlen auf, frühstücken ausgiebig die süssen Mehlspätzle mit Trockenfrüchten und Sesam und nehmen die beeindruckende Schneelandschaft in uns auf. Die Schlafsäcke und das Zelt sind schnell in der intensiven Sonne getrocknet. Wir stellen uns auf einen angenehmen Radeltag ein, hoffentlich bleibt es auch so erholsam windstill, wie bisher an diesem Morgen.
Die weitere Schussfahrt von unserem Hang hinab in die Grasebene lässt das Adrenalin in den Adern kochen. Die Pistenoberfläche ist feinkiesig und durch den nächtlichen Frost sehr fest. Unsere Geländereifen beissen sich mühelos geradlinig durch den auf die Fahrspur gewehten Schnee, wodurch Wolken aus feinem weissen Pulverschnee hinter uns aufwirbeln. Wir tauchen in die Schneelandschaft ein und werden Teil des Windes, der momentan noch schräg von hinten kommt. Noch kein Lkw-Reifen hat die Schneeoberfläche zerstört.

Nach 15 Tagen haben wir endlich die Stelle erreicht, an der wir die Piste verlassen werden und ins Chang Tang abbiegen. Wir legen einen Ruhetag ein, an dem wir uns intensiv mit der Logistik der nun folgenden Tage beschäftigen, damit es später keine Orientierungsschwierigkeiten geben wird. Die Route zu unserem Expeditionsziel, dem Toze Kangri, planen wir jetzt konkret mit Hilfe der topographischen Karten. Wir möchten in spätestens sieben Tagen bis zu diesem grossen Gebirgsmassiv gelangt sein.
Dann müssen wir erkunden, wie eine Besteigung der beiden Hauptgipfel möglich ist. Wir können allem Anschein nach für die ersten beiden Tage mit einer guten Fahrspur rechnen. Vielleicht führt diese Spur auch noch etwas weiter nach Osten, aber wichtig ist, dass wir nicht in zu morastiges Gelände kommen. Deshalb planen wir unsere Route nicht zu nah an den vielen Seen vorbei und versuchen, die grossen Fluss-Systeme zu meiden. Ein anderer Feind neben dem Schlamm ist der Sand. Hier würden wir mit unseren schweren Fahrrädern und besonders mit den Anhängern unweigerlich schieben müssen.

Uns ist ganz klar, dass wir für die An- und Abreise zum Toze Kangri viel Geduld und Kondition benötigen werden.

   
Chang Tang